Du warst doch schon immer so

Frau am Strand

GASTBEITRAG von Anja Reichel

Sie schreibt über ihre eigene prägsame Kindheit, und die Schwierigkeit, sich selbst wieder zu finden und alte Muster abzulegen, um in Harmonie mit den eigenen Kindern zusammenleben zu können.

Ich wünsche dir weiterhin den Mut und die Stärke, die du für deinen Weg benötigst! Ich bedanke mich für deine offenen Worte:

 

Als Mutter muss man sich täglich neu erfinden. Ein Satz, der so leicht dahin gesagt ist, doch es steckt unglaubliche Arbeit dahinter. Oft bin ich müde. Nicht nur aus naheliegenden Gründen als Mutter dreier kleiner Söhne, sondern auch müde vom Reflektieren. Vom unermüdlichen Grübeln und Hineinfühlen, was welchen meiner Söhne (oder auch meinen Mann) gerade beschäftigt, belastet, umtreibt.

Als Perfektionistin, die ihre Aufgaben stets sorgfältig und äußerst engagiert anpackt, nehme ich auch die Rolle der Mutter ernst. Oft so ernst, dass mir immer wieder sämtliche Leichtigkeit oder gar Freude abhanden kommt. Andererseits: was gibt es Größeres, Wichtigeres als drei Kinder zu möglichst in sich ruhenden, mitfühlenden, stabilen und integren Männern zu erziehen?! Schon allein, während ich das schreibe, spüre ich die immense Last der Verantwortung. Nun, woher kommt das?

"Du warst schon immer anspruchsvoll und perfektionistisch.", würde meine Mutter jetzt sagen. Und genau so ist es für sie auch. Ich war ja nun 'schon immer' so. Es ist recht einfach so zu denken - und das ist nicht überheblich gemeint! Sondern eben einfach einfach. Anderen Menschen, vor allem seinen Kindern, die Verantwortung zu geben, wer oder wie sie eben 'schon immer' sind und, dass sie durch eben diese Art andere wütend, zufrieden oder glücklich machen. Das macht einem das eigene Leben mitunter so viel leichter. Doch diese Verantwortung verschwindet nicht einfach! Sie lädt sich auf andere Schultern ab, in der Regel auf die der Kinder. Und wenn man bedenkt, dass Generation über Generation als Kind tonnenweise Verantwortung zu tragen bekam, die nicht ihre eigene war, die sie dann wiederum auf ihre Kinder ablud usw., so sind Berge gewachsen. Nicht mit böser Absicht selbstverständlich!

Frau auf Fensterbank

Natürlich kann ich sagen: "Mein Kind ist halt schwierig!" oder was mich betrifft: "Ich war schon immer perfektionistisch." Doch für eine Mutter, die Jesper Juul und Remo Largo liest, sich ein wenig mit Bedürfnisorientierung und Bindung beschäftigt hat, ist dieser Weg versperrt, sobald das Reflektieren einmal begonnen hat. Sobald ich verstanden hatte, dass vermeintliches Fehlverhalten eines Kindes über längere Zeit im Grunde nur ein Hilferuf ist bzw. ihr Weg auf etwas aufmerksam zu machen, ist mir die Einstellung 'So ist es halt.' nahezu unmöglich. Und so sehr ich daran glaube, so sehr gibt es auch Momente, in denen ich es schlicht und einfach mal gerne leicht hätte. In denen ich die Krise kriege, wenn meine Kinder nicht hören, laut herumschreien, mir androhen Dinge kaputt zu machen oder ihrem Bruder wehtun. Wenn ich Tag für Tag aufs Neue Diskussionen habe, dass man nicht in den Kindergarten will, das Essen eklig ist oder ich das Brötchen vermeintlich falsch aufgeschnitten habe. 

Dann wünsche ich mir manchmal ganz heimlich, meine Söhne wären so wie ich laut meinen Eltern war: ich sei nieeeemaaaals auf die Idee gekommen, Blumentöpfe auszuräumen, wäre immer gerne in den Kindergarten gegangen und sooooooolche Wutanfälle?! Nein, sowas hätte ich nie gehabt! Außer das eine Mal, als ich mich im Supermarkt hingeschmissen habe und daraufhin eine fing. Ich war ein folgsames, braves, sehr selbstständiges Kind, ich machte nie Probleme.

Und genau da liegt das Problem. Aus Folgsamkeit und Anpassung aus Liebe zu den Eltern wurde bei mir über Jahre eine Fassade. Eine sehr starke Fassade. Ein perfektioniertes Abbild meiner selbst, das jeder - einschließlich ich selbst - für echt hielt. So war ich toll. So bekam ich Aufmerksamkeit und wurde gelobt. Dann bekam ich mein erstes Kind - die Fassade hielt, auch wenn ich mich in Gesellschaft zunehmend unwohler fühlte ohne recht zu wissen wieso. Das Zweite riss dann durch Frühgeburt und von Kränkeln geprägtem ersten Jahr einige meiner Schutzwälle einfach ein, die Fassade bröckelte... Überforderung. Viel Schreien. Völlige Hilflosigkeit in meinen Reaktionen. Mutter-Kind-Kur. Ich kämpfte weiter gegen die einzigen zwei Menschen, die meine Fassade als solche erkannten, sie nicht auch nur eine Sekunde lang duldeten und daher keinen Versuch ausließen diese Fassade einzureißen: meine Kinder. 

Frau mit Kindern

Der Wunsch nach einem weiteren Kind wurde erfüllt. Solange das Hormonhoch hielt, war "alles gut". Dann plötzlich war der Tag da, an dem mir das Ausräumen der Waschmaschine wie eine Himalaya-Besteigung erschien. Ab dann fiel einfach alles nur noch schwer. Keine Kraft mehr für irgendwelche Fassaden.

Tatsächlich "brauchte" ich drei Kinder, um die Fassade endgültig zu erkennen und anzunehmen, dass mein Perfektionismus, mein Anspruch nie gestillt sein würden. Ich erkannte, was mein Ego nährt und was es killt. Das gold-schillernde Bild von mir als Mutter, gezeichnet durch zahlreiche Artikel und Bücher, konnte und kann ich niemals erfüllen; niemand könnte das. Jede Entgleisung meinerseits den Kindern gegenüber endete in der völligen Verurteilung und gar Verachtung meines eigenen Ichs. Ein Charakterzug, der also 'schon immer' zu mir gehörte, entpuppte sich in meinem Leben als ein Stolperstein, ach was, StolperBERG. Und es ist schwierig von etwas Abschied zu nehmen, von dem Mama sagt, dass es ja zu mir gehört.

Ich könnte zahlreiche Beispiele dieser Art nennen, die meine Kinder herauskitzelten (und es weiterhin tun) in ihrer unerschöpflichen Energie mir einen Spiegel vorzuhalten. Auch wenn ich diesen Spiegel nun wirklich nicht jeden Tag bräuchte, weil mein Gehirn das alles überhaupt nicht verarbeitet kriegt, so bin ich erfüllt von der Überzeugung, dass ICH auf eine Art daran wachse und weiter wachsen werde, die ich auf keinem anderen Weg erreichen würde. 

Die Diplomatikerin in mir würde jetzt sagen: 'Es bleibt jedem selbst überlassen, ob er den Blick in den Spiegel wagt. Wenn nicht, dann ist das halt so.' Wären wir nur für uns jeweils oder vielleicht höchstens ein Paar, so mag das vertretbar sein. Doch aus Perspektive der Verantwortung für ein oder mehrere kleine Menschenleben und ihre Zukunft, ist Diplomatie hier in meinen Augen fehl am Platz. Indem ich mein Verhalten reflektiere, wenn ich bereit bin mich selbst zu hinterfragen, dann übernehme ich Verantwortung. Nur dann können 'Du warst schon immer' und 'Du bist ein Mensch, der...', sprich uns von Kind an teilweise angedichtete Charakterzüge, verändert werden. 

Und egal, wie unsere Kindheit für uns war: JETZT haben WIR es selbst in der Hand! Einfach?! Nein! Bei weitem nicht. Was mich hochhält in Momenten des Kopf-in-den-Sand-Steckens, ist die Klarheit darüber, dass es mir lieber ist, wenn meine Kinder damit groß werden, dass ich oft zerrissen bin und mich dann irgendwann werde sortiert haben. (Auch wenn die Phase, bis ich klar mit einem Thema bin, mitunter die Hölle ist!) 

Lieber als ohne groß nachzudenken zu wiederholen, was man 'schon immer' so getan hat. Denn ich merke nun, mit Mitte 30, welche Folgen ein Großwerden mit dem obersten Ziel der gesellschaftlichen Konformität haben KANN.

Hier könnt ihr euch noch ein Video von Anja anschauen, wo sie Stellungnahme zur Grimme - Nominierung des Films "Elternschule" nimmt.

Anja

Ich heiße Anja, bin 34 Jahre alt und Mutter von drei Söhnen (1,5 /4 und 6 Jahre). Ich bin beruflich tätig als Gesellschaftstanz- und
Kindertanzlehrerin sowie Beckenboden-kursleiterin & gebe außerdem Fitnesskurse für Schwangere und Mütter mit Baby. Durch meine Arbeit mit kleinen Kindern und meinen tiefen Wunsch, ein entspannteres Miteinander in meiner Familie zu schaffen, kam ich zur Bedürfnisorientierung, las mehrere Bücher von Jesper Juul und versuche nun Stück für Stück diese
Werte so in unsere Familie "einzubauen", dass es für alle passt.

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